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Die verschollenen Spielkarten Zentralasiens

Autor: Rolf Zimmermann

The Missing Link

Nicht nur die Anthropologen suchen verzweifelt nach dem "Missing Link", sondern auch die Spielkartenfreunde: das fehlende Glied nämlich zwischen den Chinesischen Karten einerseits und den Indischen und Europäischen Spielkarten andererseits.
Chinesische Karten sind klein, wenig attraktiv, häufig einfarbig und immer gedruckte billige Massenprodukte. Nie hat es einen chinesischen Künstler inspiriert, sie zu unikaten Kunstwerken zu veredeln. Massenprodukte gibt es natürlich auch in Indien und Europa, aber daneben gab und gibt es wahre Meisterwerke bedeutender Künstler. In Europa gibt es eine lange Kette von großen Namen wie Pietro Bembo, Jost Ammann, Barthel Beham, über Johann Löschenkohl und Friedrich Tieck bis hin zu dem Zwölftonkomponisten Arnold Schönberg, die sich alle nicht zu schade waren, Spielkarten zu gestalten. In Indien, wo klassischerweise alle Karten handgemalt sind, haben sich eigene Künstlerzünfte für Kartenmalerei entwickelt.
Wo, wann, wie und durch wen kam es zur Verwandlung der unscheinbaren und spröden Karten Chinas zu den wunderbaren bunten Kunstprodukten Indiens und Europas?


Chinesische Karten

Indische Ganjifa Karte

Italienische Karte 15. Jhdt.

Wo?

Die letzten Stationen vor Europa und Indien sind klar, dies ist Ägypten für Europa und Persien für Indien. Das ist, wenn auch spärlich, so doch eindeutig belegt. Jedoch waren die Chinesen weder in Ägypten, noch in Persien, wo die Metamorphose stattgefunden haben könnte. Als Berührungszone kommt ausschließlich Zentralasien, das Turanische Becken in Frage, dort wo die Seidenstraße zwischen China und Europa durch uraltes Kulturland geht. Chinesen hatten dort zeitweilig ihre Handelsniederlassungen und standen in Kontakt mit Menschen vorderasiatischer Kultur.

Wann?

Zwischen 1077 und 1220 gab es in diesem Bereich eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Hochblüte, die Zeit der "Choresmischen Schahs". Althellenistische, Altpersische, Buddhistische und Islamische Kultur mischten sich dort zu dieser Zeit friedlich. Die Periode wird brutal abgebrochen durch den Mongolensturm Tschingis Chans, der die blühenden Metropolen Samarkand, Buchara, Merw u. a. in rauchende Trümmerhaufen und Leichenfelder mit Schädelpyramiden verwandelte. Die Seidenstraße gewinnt erst im 14. Jahrhundert, unter dem zweiten Mongolenreich Timur Lenks wieder einen Teil ihrer Bedeutung zurück, doch da gibt es bereits Spielkarten in Europa.

Wie?

Europäische und Indische Spielkarten haben untereinander mehr Ähnlichkeiten, als zu ihrem chinesischen Urahn. Die Karten sind unterteilt in "Farben" (suits), und diese sind wiederum unterschieden in Zahlkarten und Figurenkarten. Die Zahlen gehen von 1 - 10.
Unterschiedlich sind die Anzahl der Farben: in Europa sind das standardmäßig vier, es gab aber auch einzelne Spiele mit fünf oder mehr Farben, in Indien ist Standard acht oder zehn, es gibt aber auch welche mit zwölf, 16 und noch mehr Farben.
Unterschiedlich ist die Anzahl der Figurenkarten: in Indien sind dies stets nur zwei, in Europa können dies drei oder vier sein, es gab aber auch welche mit sechs.
Die drei oder vier Typen chinesischer Karten (Einer-Münzen, Hunderter-Schnüre, 10.000 und eventuell Millionen) sind keine Farben im eigentlichen Sinn, doch sicher deren Vorstufen. Figurenkarten gibt es nicht, wohl aber Figuren auf allen 10.000ern. Die Zahlkarten gehen von 1 - 9.
Eindeutig ist die Übernahme des chinesischen Münzsymbols. Es wurde sowohl in Europa, als auch in Indien weitergeführt. (Nördlich der Alpen verwandelte sich die Münze in das Herz)
Aus der lang gestreckten Münzschnur können sich für die europäischen Karten sowohl Schwert, als auch Stab entwickelt haben. Das Schwert gibt es auch im indischen Ganjifa, nicht jedoch den Stab. Wie sich der Kelch im europäischen Typus und die anderen Symbole des Ganjifa entwickelt haben, bleibt reine Spekulation.
Auffallend ist ferner eine Militarisierung und Feudalisierung der Karten.
Die Figuren der chinesischen 10.000er sind Glücksgötter, die Figuren der Farbreihen sind Könige, Wesire, Reiter oder Krieger - in Europa kommt die Königin dazu. Das Ambrasser Hofämterspiel aus dem 15. Jahrhundert trägt das Motiv der Hofämter durch für das gesamte Kartenspiel.
Auch die acht Farben des Mogul Ganjifa symbolisieren verschiedene Hofämter.

Wer?


Unwahrscheinlich ist, dass Chinesen selber diese Verwandlung durchgeführt hätten. Vermutlich haben Einheimische sie beim Spielen beobachtet und Teile von Kartensätzen zur Vorlage genommen, haben die Idee übernommen für ihre eigene künstlerische Neugestaltung. Denkbar ist, dass dabei die Figuren des Schachspiels hilfreich Pate gespielt haben.

Nach dem bisher Gesagten lässt sich folgendes Schema zeichnen:

Die Münzfarbe in China, Italien und Indien
Geldkarten
China
Minchiate,
Etrurien 1725
Mogul Ganjifa
Rajasthan ca. 1900
Geldkarten
China
Minchiate,
Etrurien 1725
Mogul Ganjifa
Rajasthan ca. 1900
 
  
  
 
 

Der Weg nach Europa

1260 erleiden die Mongolen ihre erste militärische Niederlage. Nachdem sie die Kalifenstadt Bagdad vollständig zerstört und Syrien erobert hatten, tritt ihnen vor Ägypten siegreich ein zentralasiatisches Söldner- und Sklavenheer entgegen, die Mamelucken. Durch diesen Sieg gestärkt ergreifen die Mamelucken selber die Macht in Ägypten. Offensichtlich hatten einige dieser Krieger aus ihrer zentralasiatische Heimat Spielkarten mitgebracht. Sie müssen sich in Ägypten recht schnell verbreitet haben. Durch italienische, spanische und arabische Händler gelangen sie dann schließlich Mitte des 14. Jahrhunderts nach Südeuropa.
Die Ganjafeh, Naipes oder Mameluckenkarten haben bereits alle Merkmale der italienischen Karten. Sie besitzen die vier Farben: Münzen, Kelche, Schwerter und (Polo-?) Stäbe, sowie je vier Hofkarten. Jedoch gilt unter den sunnitischen Mamelucken das islamische Bilderverbot, so dass nur Symbole und Schrift diese kennzeichnen.
Irgendwann wird die Spielleidenschaft der Ägypter durch den islamischen Klerus beendet. Alle Spiele werden vernichtet - außer 47 Karten aus drei prachtvollen Sätzen. Diese befinden sich dank der Sammelleidenschaft der osmanischen Sultane im Topkapı Serail Museum in Istanbul: als einzige arabische Spielkarten überhaupt. Als Spielkarten entdeckt wurden sie erst 1938.
Die Karten der drei unterschiedlichen Sätze sind untereinander sehr ähnlich, die Größe der Karten ist erstaunlich: 25 x 9,5 cm (!).
1975 wurde von Aurelia Brüssel eine Reproduktion vorgenommen. Aus den drei unvollständigen Sätzen wurden durch eine kompetente Rekonstruktion ein vollständiger Satz von 56 Karten nachgedruckt und in einer limitierten Ausgabe von 750 Stück herausgegeben. Leider wurde dabei das Original verkleinert auf eine "spielbare" Größe.

Der Weg nach Indien

Das Choresmische Reich hatte sich 1194 auch auf Persien ausgedehnt. Zwar wurde auch Persien von den Mongolen erobert, jedoch hielten sich hier die Zerstörungen in Grenzen. Die nachfolgenden mongolischen Dynastien der Ilchane (1256 - 1336) und Timuriden (1370 - 1495) waren beide große und weltoffene Kunstförderer, so dass in Persien die Tradition der Spielkarten nicht abriss. Leider gibt es aus dieser Zeit keine Kartenbeispiele, sondern nur literarische Hinweise.
Unter den darauf folgenden Safawiden (1501 - 1722) wird in Persien die Schia zur Staatsreligion. Die Schiiten haben ein gelockertes Verhältnis zum Bilderverbot. Im Gegenteil, die Portrait- und Miniaturenmalerei blühten in dieser Zeit. Auch Darstellungen des Propheten Mohammed gibt es in großer Zahl! Behauptungen von Moslems während des so genannten Karikaturenstreits, es habe im Islam nie bildhafte Darstellungen des Propheten gegeben, sind schlichtweg falsch.
Aus Safawidischer Zeit gibt es nun wieder echte Karten. Auch die Literatur bietet eine Fülle von Hinweisen über die weite Verbreitung und die Beliebtheit des Kartenspiels im Adel und den Unterschichten. Leider kommt es im 17. Jahrhundert auch hier zur Machtübernahme religiöser Eiferer, unter denen schließlich das Kartenspiel verboten wird und so gut wie alle Bestände vernichtet werden.
So gibt es nur acht (!) einzelne Karten aus einem Satz von 96, die überdauert haben. Sie gelangten als Geschenke zunächst an den Sultanshof nach Istanbul und von dort schließlich in die Österreichische Nationalbibliothek nach Wien, wo sie erst 1980 entdeckt und als Spielkarten identifiziert worden sind. Piatnik gab 1981 einen limitierten Nachdruck heraus. Auch ihre Größe ist immens: 21 x 14 cm. Es handelt sich hierbei um Karten nichtstandarisierten Typus, wie sie auch in Indien vorkommen, mit verschiedenen Tieren, Vögeln, Menschen. Interessant ist, dass zeitgleich in Deutschland ebenfalls neben dem Standartkartentypus mit allen möglichen Farbsystemen experimentiert wurde.
Leider gibt es kein persisches Exemplar mit den acht standarisierten Ganjifa Farben: Krone, Goldmünze, Silbermünze, Harfe, Diener, Schwert, Stoffballen, Schriftdokument. Da jedoch deren Bezeichnungen in Indien durchweg persisch sind, ist hier ein Vorläufer in Persien unbedingt anzunehmen.
Die ersten Spielkarten Indiens entsprachen noch genau dem persischen Vorbild. Erst später nehmen sie die typische runde Form an.

Persische Gandjafa Karten
Zehn Bogenschützen Zehn Löwen Acht Händler

Wesir beim Polospiel Acht Bauern bei Getreideernte Zwei Rinder


Unübersehbar ist die Verwandtschaft zu den Indischen Spielkarten

Die Mamelucken Karten
Kelche
König
Stäbe
1. Leutnant
Schwerter
2. Leutnant
Münzen
Knappe

Kelche
Sieben
Stäbe
Fünf
Schwerter
Sechs
Münzen
Acht

Zum Namen

Spielkarten heißen in Indien im allgemeinen Ganjifa, in einem speziellen Ort auch Ganjappa. In Persien hießen sie Gandjafa und in Ägypten Ganjafeh.
Woher kommt der Name?
Der Groß- und Altmeister der Kartenforschung Rudolf von Leyden bietet folgende Erklärung als Hypothese an: "Ganj" ist das persische Wort für Schatz. Da die Münzkarte eine bedeutende Rolle einnimmt, gibt der Bergriff "Schatzkarte" durchaus Sinn. Wohlgemerkt: von Leyden behauptet dies nicht, sondern bietet es als Hypothese an. Aus Ehrfurcht vor dem Meister wird diese Annahme jedoch häufig als Tatsache weiterkolportiert. Ich biete hier eine andere Hypothese an.
Spielkarte heißt auf chinesisch Zhi pai, ausgesprochen ungefähr Djö-pai. Die Eigenbezeichnung der Chinesen für sich selber ist "Han".
Auf eine Frage der Einheimischen, was die chinesischen Händler da Seltsames miteinander spielen, mögen sie geantwortet haben "Das sind doch Chinesische Spielkarten!" "Han Zhi Pai!" (Han Djö Pai) Und aus "Han Zhi Pai!" wurde leicht Gan Je pai, Ganjefei, Ganjafa, Ganjifa etc.
So würden die Indischen Spielkarten bis heute einen chinesischen Namen tragen!

Schluss

Dass wir jemals genau wissen, wie die Verwandlung der chinesischen in die vorderorientalischen Karten stattgefunden hat, ist unwahrscheinlich. Die Zeit in der dies stattgefunden haben könnte, war zu knapp, als dass überhaupt viel vorläge, die kriegerischen Zerstörungen waren zu vollständig und die religiösen Fanatiker zu eifrig.
So bleibt letztlich alles was gesagt werden kann Spekulation und bestenfalls Hypothese.
Noch ein Wort zu der so genannten Turfan Karte, die 1905 gefunden wurde. Sie befindet sich heute im Berliner Museum für Völkerkunde. Ihr Alter ist nicht genau datierbar, jedoch halten Einige sie für die älteste Spielkarte der Welt.
Für unsere Fragestellung nach der Metamorphose, ist sie, so alt sie auch sein mag, bedeutungslos. Sie ist eindeutig eine chinesische Karte mit keinerlei Ansätzen für eine Verwandlung in Richtung der islamischen Karten.
Auch liegt Turfan viel zu weit vom Iranischen Kulturraum entfernt, als dass sie für die Entwicklung der Spielkarten irgendeine Bedeutung gehabt haben könnte.
Ein Chinesischer Händler oder Soldat wird sie halt verloren haben!

19. April 2006

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