Alta Carta | Die Alternative für den Spielkartensammler |
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In Ennetbaden gab es einst eine kleine Spielkartenfabrik. Ihr Besitzer war Walter Scharff. Dass er Deutscher und Jude war, hat sein Leben tragisch bestimmt.Wie oft und wie lange sich Walter Scharff jeweilen in Ennetbaden aufgehalten hat, ist mehr als siebzig Jahre später nicht mehr auszumachen. Die Menschen, die ihn noch persönlich hätten antreffen können, erinnern sich weder an sein Unternehmen noch an ihn persönlich. Die Tochter des seinerzeitigen Ennetbadener Milchhändlers Rütimann, die heute weit über achtzigjährige Elsy Fehlmann-Rütimann, mag sich jedenfalls nicht entsinnen, je etwas von Walter Scharff oder seiner Spielkartenfabrik gehört zu haben. Dabei ist denkbar, dass Scharffs Spielkartenunternehmen unter dem Dach des Milchhändlers untergebracht war - dort, wo heute das historische Museum steht. Elsy Fehlmann sagt: "Im grossen Holzschopf gegen die Limmat war immer allerlei Gewerbe eingemietet." Stützen wir uns also auf die Fakten, die überprüfbar sind: 1931 wird im kantonalen aargauischen Handelsregister eine "Wasco Aktiengesellschaft" eingetragen. Sitz des Unternehmens: Ennetbaden. Zweck: "Fabrikation und Vertrieb sämtlicher in die Papierbearbeitungsbranche einschlagenden Artikel". Die Adresse: Sonnenbergstrasse 78. Das macht freilich stutzig: Eine Sonnenbergstrasse 78 hat es nie gegeben. Aber vielleicht ist diese Zahl auch gar nicht die Hausnummer, sondern bezeichnet - wie früher durchaus üblich - die Gebäudeversicherungsnummer. Fehlanzeige: Das Gebäude mit der Versicherungsnummer 78 befindet sich an der Höhtalstrasse - und ist eine Trafostation. Immerhin taucht unter Ennetbaden die Wasco AG im Telefonbuch füFr die Jahre 1932/33 auf - mit der Nummer 470. Eine genaue Adresse allerdings fehlt. Im Katalog zur Ausstellung "Schweizer Spielkarten", die das damalige Kunstgewerbemuseum vom 11. November 1978 bis zum 28. Januar 1979 gezeigt hat, finden wir unter "Wasco AG" einen kurzen Eintrag: "1931 gründete Dr. Hans Glarner auch die neue Firma, schied aber 1932 aus dem Verwaltungsrat aus. Es trat nun der Deutsche Walter Scharff auf, vormals Spielkartenfabrikant in München, dermals Angehöriger der Altenburg-Stralsunder Spielkartenfabrik in Altenburg (Thüringen); von dort wurden teilweise auch die Spielkarten bezogen. 1935 verlegte die Firma ihren Sitz nach Zollikofen bei Bern, Ende 1936 stellte sie den Betrieb ein. Die Bestände übernahm Müller&Cie. in Neuhausen am Rheinfall; Walter Scharff versuchte sein Glück in Ägypten." Ein Dr. Glarner, die Spielkartenfabrik Altenburg und auch unser Schweizer Jasskarten-Traditionsunternehmen Müller&Cie. müssen also etwas mit Walter Scharff zu tun gehabt haben. Tatsächlich wird die Wasco AG in Max Ruhs vor zwei Jahren erschienenen Geschichte der Schaffhauser Spielkarten (in der Reihe "Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik") kurz erwähnt: "Ernsthafter war die Konkurrenz des 1931 gegründeten Unternehmens Wasco AG. Auf Druck der Spielkartenfabrik Müller stellte die Firma in Ennetbaden den Betrieb auf Ende 1936 ein."
Verfolgen wir, bevor wir die Geschichte Walter Scharffs, des Drucks aus Schaffhausen und dem versuchten Glück in Ägypten genauer ausleuchten, noch die Spur des Dr. Glarner. Der Zürcher Rechtsanwalt hatte tatsächlich schon 1930 eine Spielkartenfabrik gegründet - die Atrac AG. Sie wurde von Max und Fanny Bleiberg geführt. Die Firma soll 1931 nach Ennetbaden verlegt worden und sofort in Konkurs gegangen sein. Daraus ist dann die Wasco AG Spielkartenfabrik Ennetbaden entstanden. Wer waren die Bleibergs? Sie waren Polen, erfahren wir aus dem Ausstellungskatalog "Schweizer Spielkarten". Und im Stadtarchiv Zürich finden wir den Eintrag, dass Max Bleiberg 1879 geboren wurde, Kaufmann von Beruf war, seit 1921 in Zürich lebte und mit Vornamen eigentlich Meilech hiess. Fanny war nicht, wie man unwillkürlich annimmt, seine Frau, sondern die Tochter - Feiga, genannt Fanny. Die Bleibergs waren osteuropäische Juden und wie etliche ihrer Glaubensbrüder und -schwestern in den Zwanzigerjahren aus Polen nach Zürich gekommen. Warum die Atrac AG kurz vor dem Konkurs nach Ennetbaden verlegt wurde, ist nicht mehr zu erfahren. Offenbar vernahm Walter Scharff von der konkursiten Atrac AG. War ers, der Hans Glarner davon überzeugte, flugs eine neue Kartenfabrik zu gründen? Jedenfalls schreiben Ingolf Strassmann und Renate Reinhold in einem 2001 veröffentlichten Aufsatz (im Jahresheft "Der Alte", einer Publikation für Spielkartensammler und -freunde), es "bleibt zu vermuten, dass Scharff der Initiator dieser Gründung überhaupt war". Scharff war zu dieser Zeit tatsächlich schon mitten drin im (deutschen) Spielkartengeschäft. Er hatte unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg (zuletzt als Oberstleutnant im 5. Bayerischen Feldartillerie-Regiment) als 25-Jähriger bei der Münchner Druckerei "Graphia" als Angestellter begonnen. Schon ein Jahr später war er - er hatte schon als Gymnasiast recht grossspurig sein Berufsziel mit "leitender Angestellter in der Industrie" angegeben - Mitinhaber der Kartonfabrik Heinrich Spindler OHG. Vier Jahre später (1923) gründete er die Deutsche Spielkarten-Fabrik AG, die ab 1925 "Deutsche Spielkarten-Fabrik Walter Scharff K.G." hiess.
Scharffs Spielkartenfabrik war ein kleines Unternehmen. Und den deutschen Markt beherrschte die Vereinigte Altenburger und Stralsunder Spielkartenfabriken A.G. (VASS). Diese hatte sukzessive kleinere Unternehmen aufgekauft und war so zu einem Imperium geworden. Auch Walter Scharffs Münchner Unternehmen geriet in den Fokus des Grossunternehmens. Tatsächlich ging seine Fabrik in den Besitz der VASS über. Scharff wurde in Aktien der VASS AG bezahlt, und er wurde 1931 im Rang eines Direktors Mitglied des VASS-Vorstandes. Die Münchner Firma wurde zur Vetriebsgesellschaft und existierte weiter als Deutsche Spielkartenfabrik G.m.b.H. 1938 - aber da wird Scharff zwangsläufig schon nichts mehr damit zu tun haben - wird der Firmensitz nach Altenburg verlegt. Die Wasco AG in Ennetbaden war wohl auch eine Vertriebsgesellschaft der VASS. Auch wenn auf dem Briefkopf "Wasco AG Spielkartenfabrik Ennetbaden" steht und im Handelsregister von "Fabrikation" die Rede ist, ist eher unwahrscheinlich, dass in Ennetbaden Karten gedruckt wurden. Dies dürfte vielmehr in der Altenburger Fabrik geschehen sein. In Ennetbaden wurden die bedruckten Bogen mit den Spielkarten geschnitten, verpackt und versandt. Dieser Ansicht jedenfalls ist Walter Haas. Wie viele Leute aber in der Ennetbadener "Fabrik" gearbeitet haben und wie sie gearbeitet haben, darüber lasse sich nur spekulieren. Der Spielkartensammler und -historiker Walter Haas aus Freiburg ist Experte für Kartenbilder und weiss auch von feinsten Details, die Karten aus verschiedenen Produktionen voneinander unterscheiden. Unter dem Namen Wasco Ennetbaden seien Jasskarten mit deutschen und französischen Farben, Karten mit einem speziellen Bild für die Westschweiz und solche mit dem Mailänder Bild für das Tessin hergestellt und vertrieben worden. Daneben produzierte Wasco auch Karten mit dem internationalen oder angloamerikanischen Bild (Poker-Karten). Und Haas weiss natürlich sofort ein Beispiel für die Eigenart der Wasco-Karten: So hält der Eichel-Ober im Bild der Scharff-Jasskarten zwar wie jeder Eichel-Ober eine Tabakspfeife in der Hand. Doch anders als auf Karten aus z.B der Müller-Produktion in Schaffhausen bläst der Ober keinen Rauch aus. Ähnliche Feinheiten kennt Haas von andern Kartenbildern, die Scharff hergestellt und vertrieben hat. "Scharff hat", sagt Haas, "sehr schöne, sehr edle Karten gemacht." Walter Scharff hätte ab seinem 40. Lebensjahr ein gemachter Mann sein können. Doch nach dem 30. Januar 1933 wurde alles anders. Scharff war in Hitlers nationalsozialistischer Diktatur trotz seiner pfälzischen Wurzeln und seines Einsatzes für Deutschland im Ersten Weltkrieg nicht mehr erwünscht. Scharff war jüdischer Abstammung. Und Juden hatten in der deutschen Wirtschaft nach Hitlers Machtergreifung nichts mehr zu suchen. Im Zuge der sukzessiven Arisierung von Gewerbe und Industrie verlor Scharff 1936 seine Geschäftsanteile an der VASS, ebenso seinen Direktorenposten und auch die Geschäftsführung der von ihm zehn Jahre zuvor gegründeten Münchner "Deutschen Spielkarten-Fabrik". Im Jahr 1935 hatte Scharff den Firmensitz der Wasco AG nach Zollikofen im Kanton Bern verlegt. 1936 verschwand die Firma aus dem Handelsregister. Der Waren- und Materialbestand wurde an die Spielkartenfabrik J. Müller & Cie. in Schaffhausen verkauft. Zu welchem Preis? Man weiss es nicht. Ebenso bleibt unklar, warum der Firmensitz noch nach Zollikofen ging. Nur soviel: Scharff verliess 1936 zusammen mit seiner Frau und den 15- und 12-jährigen Töchtern Deutschland und ging in die Schweiz. Hier muss er seine Firma aufgelöst und das Firmengut verkauft haben. Der Vertrag mit der Schaffhauser Spielkartenfabrik ist am 2. Juli 1936 unterzeichnet worden. Ein Indiz, wie die Schaffhauser Kartenhersteller die Gunst der Situation ausnutzten, ist die von ihnen eingebrachte Vereinbarung, die Scharff für 25 Jahre verbot, in der Schweiz Spielkarten zu verkaufen und zu vertreiben.
Frau und Töchter Scharff blieben vorläufig in der Schweiz, der Familienvater aber zog noch 1936 über Genua nach Alexandria in Ägypten weiter. Im Februar 1937 folgten die Ehefrau und die Mädchen. Und was machte Walter Scharff in Alexandria? Er gründete 1938 eine Spielkartenfabrik mit einem modernen Druckereibetrieb. Schweizer Fachkräfte sollen ihm - schreiben Strassmann/Reinhold - dabei geholfen haben. Die Scharff-Spielkarten sind bald landesweit bekannt - bis ins ägyptische Königshaus. Markenzeichen der Karten aus der Manufaktur Scharff ist nun ein Kamel. Die von Walter Scharff gegründete Spielkartendruckerei in Alexandria besteht bis heute - als Teil der "Moharrem Press Alexandria". Doch Scharffs Name taucht in der Firmengeschichte des ägyptischen Unternehmens nicht auf. Scharff ist in Ägypten 1962 ein zweites Mal in seinem Leben enteignet worden. Sukzessive waren nach der Gründung der ägyptischen Republik 1953 die Juden als "Zionisten" des Landes verwiesen und ihr Besitz entschädigungslos eingezogen worden. Lebten 1948 noch 75000 Juden in Ägypten, waren es Mitte der Sechzigerjahre gerade noch 1000. Schon schwer herzkrank gehörte Scharff 1962 zu den letzten, die das Land verliessen. Er zog mit seiner Frau Hilde in die Schweiz, in die Nähe von Lausanne. Dort starb Walter Scharff, der einst von Ennetbaden aus edle Jasskarten vertrieben und später mit dem ägyptischen König Faruk Karten gespielt hatte, am 1. November 1967 - 74-jährig - in ärmlichen Verhältnissen. |